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50 shades of Herbstlaub

 

Nebel ergiesst sich bleiern über Wiesen, die Nässe kriecht wie ein eisiger Finger zwischen Nähten hindurch. Es ist die kuschelige Zeit der wärmenden Wollsocken und Wetterfühligkeiten.

 

Meine Bio-Wetterapp hat heute morgen als Vorschau folgende Angebote für den Tag gemacht:

Kopfschmerz/Migräne

Seelische Probleme ( was immer damit gemeint ist )

Reizbarkeit

Tinnitus

„Wie soll ich das alles heute noch schaffen ?“ rufe ich Scooter zu, der mit einem listigen Laubbläser den Pfad zu unserem Gesindehaus von bunten Blättern befreit. Jetzt tanzen nur noch Blätter für ihn, denke ich mitfühlend. Während ich zusehe, wie er versucht, aus Laub eine Demokratie zu formen. Schön ist das.

 

Scooter, mit bürgerlichem Namen D. Zibel, hört mich entweder nicht oder ist vertieft in sein buntes Blattwerk. Ich weise meinen Sherpa an, mich zum Gesindehaus zu führen. So weit draussen war ich noch nie.

„Wie lange müssen wir akklimatisieren ?“ frage ich Tenzing im Basecamp. Er reicht mir Buttertee und sagt „trink“. Sein Kommunikationsstil gefällt mir. So können wir in dieser Extremsituation den Fokus halten.

 

Nach zehn Tagen und 14 Nächten entscheiden wir uns, den direkten Weg über die Südroute, vorbei am Hillarystep und der verdorrten Weinrebe, direkt zur Pergola am Eingang zu nehmen. Das Zeitfenster für gutes Wetter ist minimal.

 

„WTF?!“ Scooter erschrickt, als ich Tenzing anweise, ihm auf die Schulter zu tippen. Mit seinem langen Rüssel, der sich tief ins Blattwerk bohrt, sieht er aus wie ein Nasenbär, fast niedlich. Und der Laubbläser auch.

Ich druckse ein wenig schuldbewusst herum mit meiner drängenden Frage: „Ist 17 eine Primzahl ?“

Scooter sagt, er sei Musiker, da sei mit allem zu rechnen, auch mit Primzahlen.

„Ich bin von Geburt an taub“, meint er. 

„War das nicht ein anderer Komponist?!“ korrigiere ich, aber wundern täte es mich nicht.

„Und ich hab Tinnitus im Auge, ich seh überall nur Pfeifen“.

 

„Ich lasse mich gerade inspirieren für einen neuen Song“, wobei er ‚Song‘ ironisch betont und dazu Gänsefüsschen in die Luft malt. Zur Untermauerung gibt er knatternd Gas, das Laub heult ächzend auf.

„Hier, mein neues Album“. Ich blättere lustlos darin herum, es ist von der EM24, und gut die Hälfte Panini-Bilder fehlen noch. . „Toll“ höre ich den People Pleaser in mir sagen.

Früher war er ja mehr der Rebell meint er, hyper hyper und so, weder akzeptiert vom richtigen Techno, belächelt von der klassischen Pop-Kultur. Jetzt passe er sich den aktuellen Trends an, er nenne sich jetzt eScooter.

Das steht ihm, finde ich, denn vorne hat er eine Redokorationsbremse ( wandelt beim Bremsen die Bremsenergie von Wasser in Wein um ) und hinten eine Schuldenbremse. Der alte Liberace!

 

Mein Handy vibriert. Tenzing ist jetzt Influencer für Gartenpflegeprodukte. Er bewirbt einen Deostick, der Maikäfer blitzdingsen soll. „Aber hier gibt’s doch nur Flugsaurier“ sehe ich mich fragend um, während ich unäuffallig meinem Körper vor meine Maikäferzucht schiebe. Siehst du, es wirkt schon, bedeutet er mir mit seinem Blick. Und verschwindet in die Maske für das Shooting vor der Weinrebe.

Produkt: ‚Lässige Lesebrillen für Ihre Weinlese‘.

 

Na dann: Hals und Selfiestickbruch.